Sonntag, 31. Mai 2015

Fuck you, fuck me. Fuck you and me.






Fuck you, fuck me
Fuck you and me and us
Menschen lieben Menschen, zumindest oft. Die meisten lieben ihre Partner. Viele lieben ihre Freunde. Einige lieben aus der Ferne und nur insgeheim. Andere wieder lieben das Leben oder einfach niemanden. Ich liebe viel,viel zu viel.... Bekannte, Unbekannte...
Manchmal nur für einige Stunden, manche für immer. Jeden wegen seiner ganz eigenen Qualitäten. Zahlreiche nur der Bilder wegen, die sie in meinem Kopf malen oder auf Grund des Inputs, den sie bieten.
Auch im amourösen Kontext funktioniert bei mir nichts ohne Love. Ich ficke mit Liebe, blase mit Liebe und spucke mit Liebe. Anders macht das für mich keinen Sinn. Selbst wenn wir uns nach 20min, 4 Orgasmen und zahlreichen blauen Flecken unbekannter Weise wieder trennen, ist Liebe die Triebfeder. Kurzweilig, langfristig, intensiv, mysteriös oder beiläufig, aber stets real. Eben so individuell wie die beteiligten Menschen.
Das zu erklären oder wie hier zu rechtfertigen, ist fast schon hässlich. Dabei gibt es keine Hierarchie. Jede Liebe ist anders aber keine ist besser. Die Gleichung ist denkbar einfach: Viele Menschen= viel Liebe= viel Sex= viel Wohlbefinden. Alle dienen der Bedürfnisbefriedung und steigern die Zufriedenheit. Für mich ist physischer Input auf unterschiedlichste Weise überlebensnotwendig. Ein Love-Malkasten mit vielen Farben. Denn immer nur blau ist auch kacke. So wie emotional ausgewogene Ernährung. Und viele Nährstoffe sind in diesem Falle viele Protagonisten.
Im Löffelchen geborgen einschlafen mit ruhigen Kopf ist ein Szenario. Das erfordert viel Vertrauen und qualifiziert daher nur wenige. Fürs Kebbeln, Schlagen, heftig Rummachen und dann rücksichtslos Ficken  finden sich schon deutlich mehr Qualifikanten. Mit manchen Menschen will ich nur Händchen halten, ihnen durchs Haar streicheln, von anderen will ich mein Arschloch penetriert bekommen. In seltenen Fällen ist bereits der bloße Dialog heiß oder auch wortlose Blicke. Mich macht vieles glücklich und andere erfreulicher Weise auch.
Die Bandbreite der Präferenzen deutet es bereits an: Kein Mensch ist in der Lage das gesamte Spektrum zu bespielen. Entsprechend schizophräne Ausprägung findet sich zumindest nicht in meinem Umfeld. Niemand ist bester Freund, Psychopath, heißer Lover, Rückhalt, Seelsorgehotline, Inspiration, Heimat und Abenteuer zugleich. Folglich bin ich der Meinung, dass auch niemanden all diese Aufgaben abverlangt werden dürfen. Die entsprechen den Kompetenzen einer gesamten Kleinstadt, nicht einem einzelnen. Sorgfältig sollte man die Kompetenzen an eben kompetente Menschen verteilen. An Spezialisten und Enthusiasten, die ihrerseits Wohlbefinden daraus ziehen. Und obwohl offensichtlich wird, was offensichtlich ist, stellt das linear monogame Beziehungskonstrukt im europäischen Raum immer noch das vorherrschende. Überpartner, die alles können oder können sollen. Aber ich will die Finger meines Therapeuten nicht in meiner Fotze und auch keinen Dildo in das Arschloch meines besten Freundes stecken. Mein Steuerberater macht ja auch nicht meine Zahnfüllungen. Daher müssen viele Menschen her. Mein Wunsch ist, dass alle diese Menschen zeitgleich ihren Platz in meinem Leben finden, parallel, ohne sich vor einander fürchten zu müssen. Eine Art Love-Community aus vielen Fachkräften für internes Wohlbefinden, die ihre gegenseitige Existenz im Idealfalle wertschätzen und sich gegenseitige Expertise einholen. Ein Synergieeffekt, Love-Katalysatoren, nennt es wie ihr wollt. Die können kommen und gehen, in eigenen Rhythmen und Frequenzen, nach eigenem Ermessen. Diktatur eines Beziehungsgegenpols, dessen Präferenzen und Grenzen man sich unterordnet, ist zumindest für mich keine Lösung. Fremde Präferenzen und Grenzen respektieren hingegen schon. Was nicht bedeutet, dass sich meine Vorlieben außerhalb dieser Grenzen in Luft auflösen. Dafür müssen die Menschen her, bei denen sie in den Toleranzbereich fallen. We got different needs, different strokes for different folkes…
Die Zahl der einbezogenen Individuen ist hierbei nicht entscheidend. Wichtig ist die Art und Weise, in der sich all das abspielt. Kommunikation ist sicher nicht meine Stärke, hier jedoch determiniert sie den Erfolg des Systems. Offen muss gesagt werden, was stattfindet und mit wem. Beteiligte müssen sich nicht kennen aber informiert sein und die Umstände akzeptieren. Einverständnis und Absprache sind Pflicht. Wohlbefinden sowie physische und emotionale Sicherheit aller Beteiligten hat dabei absolute Priorität. Die Rahmenbedingungen sind vorab abzusprechen und anzupassen sonst heult am Ende garantiert jemand. Wochenenden in anderen Betten sind kein Spaß, wenn zeitgleich die Gefühle anderer verletzt werden.
Aktuell funktioniert mein System mehr oder weniger gut. Eifersucht ist natürlich ein großer Stolperstein, denn die Herrschaften in meinem Umfeld handhaben ihr Leben in ähnlicher Form. Auch wenn es schwer fällt, ist es wichtig in diesen  Momenten zu analysieren, woher Eifersucht und Unsicherheit rühren. Denn ist die Kommunikation transparent und ehrlich, findet Eifersucht ihre Quelle meist in internen Konflikten. Keine leichte Aufgabe aber ein Aspekt, an dem man sich ausprobieren und wachsen kann. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, aber Übung macht den Meister. Aktuell gefällt mir dieses Konstrukt sehr gut und funktioniert für alle Beteiligten, bzw. fast alle. Wem es zuviel wird, der klingt sich aus. Oft mit einem „Fuck you, fuck me. Fuck you and me.“ Eine Abweichung aus Erwartungshaltung und Realität. Aber das System ist ein dynamisches und so ist niemandem verwehrt die Meinung in der Zukunft zu ändern und wieder zu kommen. Doch das ist wahrscheinlich zu viel Information.
Wem das hier erzählte noch nicht koscher scheint, der kann Ethical Slut lesen oder bei Spankwire stöbern und sich anschließend ein eigenes Bild basteln.
In diesem Sinne: LOVE

Mittwoch, 6. Mai 2015

Beobachtungen um acht Uhr morgens





Wer morgens noch in Müdigkeit schwimmt, der ist schwer von Begriff.  Entscheidung oder Bewegung, beides fällt schwer. Was ich jedoch begreife, ist, dass mein viel zu großes Bandshirt sich oberhalb der Titten zu einer Wurst gerollt hat. Schlimm ist das nicht, denn ich mag meine Brüste. Leider verhüllt die Bettdecke nicht mehr mein blankes Hinterteil und so weckt die kühle Kehrseite mich eher als der Biorhythmus. Aber ich schlafe gern ohne Unterwäsche und Schamhaar respektiere ich maximal bei anderen. Dass ich auf einem splissigen Haarbüschel kaue, rundet die Harmonie des Gesamtbildes ab. Spucke ist mir generell sehr sympathisch. In den angemessenen Situationen versteht sich. Mit dem richtigen Überraschungseffekt, zum Beispiel beim Sex genutzt, ist sie ein lustvolles Instrument. Im Moment jedoch läuft sie nur aus meinen Mundwinkeln übers Kinn und lässt mich ziemlich bedauerlich dreinblicken. Kurz das Kinn mit der Decke trocknen während die Fingernägel Haar aus dem Gesicht fischen. Und schon sehe ich klarer. Die Freude währt kurz. Ich musst pissen, so richtig. Mein Morgenurin ist die präziseste Zeitanzeige in diesem Haushalt. Auf den ist Verlass. Also entwurste ich mein Shirt. Natürlich nicht aus Scham. Das hat ganz andere Gründe. Vor knapp drei Monaten bin ich hier eingezogen. Die Dynamiken der Nachbarschaft wurden jedoch erstaunlich schnell deutlich. Nicht immer zu meinem Vorteil.
Im Nachbarhaus links wohnt Andreas. Jede Nachbarschaft braucht einen guten Geist und in diesem Viertel kommt diese Rolle ihm zu. Lange vor mir ist er morgens wach. Hohe Bücherstapel auf seiner Fensterbank verhindern jedoch, dass ich ihn auf dem Weg zum Bäcker ordentlich grüßen kann. Trotzdem klopfe ich stets und hoffe, dass er mich durch seine dicken Brillengläser erkennt. Seine silbergrauen Haare, adrett zum Seitenscheitel gekämmt, mit anrasierten Seiten, sind sexy anzusehen und erinnern an Morrissey. Dass er fast ausschließlich grellbunte Adidas Trainingsanzüge trägt, sorgt für einen schrägen Stil-Mix. Er wirkt edel in Erscheinung und Intellekt. Auch die sorgfältig gewählte Brille und seine geraden, symmetrischen Gesichtszüge zeichnen einen smarten Mann Mitte 40, der vermutlich mit erschreckender Lockerheit Rocko Schamoni abwichsen könnte. Ich mochte ihn sofort! Noch ehe er mir erzählte, dass er noch letztes Jahr 20kg mehr wog und der Pizzaservice seine einzige Nahrungsquelle stellte. Noch ehe er seine bipolare Störung offenbarte. Noch ehe er warnte, oft nicht zu sprechen, da er Kontakt nicht ertrage. Und auch ehe er erzählte, vor 20 Jahren wegen HipHop nach Hamburg gezogen zu sein. Sein Literatur- und Germanistikstudium schloss er nur Dank der Herzlichkeit seiner Professoren ab, die sein Talent für Wort und Klang vor seine Krankheit setzten. 22 Semester und eine Magisterarbeit später war es vollbracht. Das Schreiben ist seine zweite große Liebe neben der Musik. Ginger Baker und A Tribe Called Quest zerhackt er zu Samplen, was meine Laune fast täglich steigert. Seit etlichen Jahren arbeitet Andreas an einer Fortsetzung des Fängers im Roggen. Nicht die Lari-Fari-Nummer mit Junge-wird-erwachsen-und-macht-sein-Ding. Seine Protagonistin ist die kleine Schwester. Und wie wir übereinstimmen, ist sie die eigentliche Quelle der Weisheit des Buches. Hals über Kopf verliebt sie sich in einen jüdischen Immigranten, der auf der Flucht vor Nazideutschland in NY groß wird und rein zufällig später zum HipHop kommt, auf der Suche nach Wurzeln aber auch wieder in Hamburg landet. Klingt alles schlüssig in meinen Ohren und  so hoffe ich, dass seine mentale Kondition  es mir erlaubt eines Tages ein schniekes Printexemplar im Garten zu lesen.Wenn er nicht gerade mit dem 78jährigen Jean Francouise Opern von Mahler neu interpetiert, trinkt er mit mir Kirschsaft und lästert über Oskar Kokoschas Schwäche Alma Werfel.
Die Kälte des Bodens unter meinen Füßen holt mich zurück in den Morgen.  Schon seit drei Monaten denke ich über einen Teppich nach. Unglücklicher Weise sind Entscheidungen nicht meine Stärke. Am liebsten wäre mir ein extrem dünner, farbenfroher Perser oder Kelim. Der würde jeden Morgen mit seinen Mustern verrückte Geschichten auf meinen Schlafzimmerboden malen und mich im Tag freundlich empfangen. Weiche Fasern, top Qualität, gruseliger Preis. Leider nicht im Budget enthalten. Oder ein moderner Wollteppich, weißer Grund mit farbigen Dreiecken. Skandinavischer Stil. Wolle, oder Leinen oder sogar ein Woll-Leinen-Gemisch. Die mit gutem Design sind von Hay, BoConcept oder Farm und zu teuer. Die, denen man ihre Mittelmäßigkeit ansieht, finden sich im schwedischen Möbelhaus deines Vertrauens. Das macht sie für mich unattraktiv. Eigentlich fühle ich mich in dieser Teppichfrage nicht richtig verstanden. Nicht von Wohn-Blogs und nicht von Schöner Wohnen und deshalb bleibt der Boden kahl. Schritt für Schritt überquere ich die Kälte in Flur und Bad und drücke die Faust gegen meinen Uterus, um mir nicht in die nicht vorhandene Hose zu machen. Aber eigentlich ging es um die Scham bzw.  die nicht vorhandene. Richtig. Die Dynamik der Nachbarschaft. Andreas sorgt also für Frieden. Aber rot signalisiert meist Ärger und so hab ich mir direkt gedacht, dass die rotschöpfige Hexe im Haus gegenüber nichts Gutes bedeutet.
Jeder kennt diesenTyp Frau. Ihr Hollandrad hat sie mit Plastikblumen geschmückt, um zu zeigen, dass sie unkonventionell und kreativ ist. Das spröde Haar färbt sie mit Henna und trägt bei der Gartenarbeit Handschuhe, die sie zum Rauchen auszieht. Der Umstand, dass sowohl Frauen als auch Männer meine Nachtgesellschaft bilden, verwirrt sie. Vielleicht ist es dieser Umstand, der sie nicht schlafen lässt, denn ihre Aufmerksamkeit ist 24/7 im Betrieb. Leider war sie zuerst da und so führt sie eine Diktatur über die Blumenkunst im Innenhof. Meine Fensterbankpflanzen haben beschlossen sie zu provozieren indem sie zu den schönsten im Kiez erblühen. Das gefällt ihr nicht, mein Hagebuttenbusch noch viel weniger und als ich beschloss die gemeinschaftlichen Gartenmöbel tatsächlich zu Sitzzwecken zu nutzen, kam die Kriegserklärung. Mit Freunden sitze ich gerne bis zum Morgengrauen bei Schnaps und Dope in diesem kleinen Paradies aus Buschwerk und Laternen. Dass Aschenbecher dabei eine angeborene Funktion haben, finde ich super. Wir trinken und aschen und werden müde. Promille verhindern meist, dass dieses Aschbehältnis augenblicklich geleert wird. Jeder Krieg braucht einen Vorwand. Sie hatte ihren hiermit gefunden. Während wir uns meist gegen sieben, halb acht ins Bett schleppen, klopft sie um acht verärgert ans Fenster. Sie nennt mich FrOilain und sagt, dass das so nicht geht und wenn ich hier wohnen will, muss ich nach den Spielregeln spielen. Spiele find ich mindestens so gut wie Spucke. Ärger find ich aber eher anstrengend und so versuche ich, ihr nicht vorsätzlich vor den Karren zu pinkeln. Nur deshalb verhülle ich meinen Hintern. Denn auch in diesem Moment starrt sie aufmerksam aus dem Fenster. Aber Vorhänge kann sie  sich selbst zulegen. Die sind nichts für mich. Und während ihre Zornesfalten mit Bildern blanker Ärsche durch meine Gedanken sausen, leert sich meine Blase. Ein schönes Gefühl. Und da wir in einem ansehnlichen Altbau hausen, verrät die Geräuschkulisse, dass es Anja über mir gerade genauso geht. Sie ist Beamtin, macht ab und an Fortbildungen auf Teneriffa. Dass ich stets ihre Pakete annehmen kann, lässt sie vermuten, ich sei arbeitslos. Ganz untreffend ist diese Vermutung nicht, denn Schriben ist eine no-pants Tätigkeit und zählt nicht wirklich, egal wer dafür zahlt. Trotzdem hat sie bei der Post unter „Wunschnachbarin“ meinen Namen eingetragen. Meine aktuellen Leistungen in diesem Feld werden mit sehr gut bewertet. Die BioMandeln in weißer Schokolade oder Jonnissbeerpralinen, die sie mir als Zeichen der Sympathie ab und an in die Hand drückt, sind lieb gemeint aber nicht vegan. Ihr Klingelschild sowie der klassische Platinring an ihrer Hand verraten mir, dass sie liiert ist. Und obwohl ich ihren Freund noch nie gesehen habe, weiß ich, dass unser Morgenurinfluss synchronisiert ist. Schwestern der Blase.
Die Spülung spült und ich beschließe mich nicht zu ärgern, sondern mich an den kleinen Dingen des Lebens zu erfreuen. Dingen wie Frühstück,  gesunden Lungen und einem intakten Kurzzeitgedächtnis. Kaffee wäre jetzt gut und schon habe ich meine Vorsätze vergessen. Doch nicht so intakt das Gedächtnis…Vom Küchenfenster aus sehe ich Zoran. Ihm gehört die Kneipe im letzten Haus der Terasse. Er hat sie nach seiner kleinen Tochter benannt und nach dem Geschmack seines Vorgängers eingerichtet. XXL Plüschtiere lauern in den Ecken und sorgen für Unbehagen, während die lebensgroße Leninbüste ein wenig Stil und Furcht ergänzt. Aktbilder und Schallplatten füllen die Wände des "Olivia". Zorans Ex-Frau ist eine Balkanschönheit und gerade neu verliebt in einen Typen, den Zoran nur „Macker“ nennt. Telefonate führen die beiden über Skype und die Musikanlage der Kneipe. Sharing is Caring scheint er zu denken und so werden Gäste stets unfreiwillig informiert, ob Zoran eifersüchtig ist oder Ex Frau Ceca gerade mit dem Rauchen aufhört. Ich  muss grinsen und winke ihm. „Kind, kenn ich deinen Vater?“, fragte er mich an meinem ersten Abend im Viertel. Ich mag es nicht beschwören aber ganz unwahrscheinlich ist es  nicht. Sein Grappa ist gut, sein Musikgeschmack noch einen Tick besser und sein Hemd oft schief geknöpft. Am meisten gefällt mir jedoch seine vertraute Stimme, mit der "noch einer, oder?" klingt, wie wenn Mutter zum Essen ruft.
Kurz kratze ich mich im Schritt, während die Biletti mit Druck heißes Wasser durch Kaffeepulver schießt und die Küche mit bitterem Duft füllt. Kaffee ist das Gold des kleinen Mannes bzw. der kleinen Frau, denke ich. Mannin würde falsch klingen, obwohl der Ausdruck „Hurensöhnin“ absolut etabliert ist. Leise atme den versöhnlichen Duft ein und erfreue mich für einen kurzen Moment tatsächlich an allem. Das Universum macht einen guten Job. Guten Morgen schönes neues Viertel! Guten Morgen Zoran und Mark. Der teilt seine Schlafzimmerwand mit Andreas und unterrichtet an Nenas freier Schule erfolglos Musikproduktion. Perlen vor die Säue sagt er. Wenn Kinder wählen dürfen, was sie machen wollen, erhält"nichts" die klare Mehrheit.
Mit links brösel ich ein wenig Weed in meinen Tabak und rolle ein zierliches Sticky zum Heißgetränk. Süßes Leben. Und keine Chance der Unterhose.

Mittwoch, 4. März 2015

Kathmandu - von Straßenhunden und Lärm und grundloser Liebe






Es gibt für alles einen Grund, so sagt der Volksmund. Aber für vieles auch einfach nicht, und das sag ich. 
Aus Backstein haben sie das Flughafengebäude gebaut, das eher einer Grundschule gleicht als einem Hauptstadtflughafen. Und wir schlendern hindurch. Direkt aus dem Flieger, dessen Luft noch nach indischem Curry und Minzjoghurt riecht, passieren Miss India, die hier Flugbegleiterin ist, an den Schildern mit Ebolameldepflicht vorbei, hin zu einem der beiden Schalter in der Ankunfthalle. Happy Diwali! Diwali-Sale. Scheinbar gutes Timing. 
Europäer mit Aplinen Wanderschuhen, Amerikaner mit violett gefärbten Haaren und Wursthaarträger mit Ohm-Aufnähern stehen Schlange. Zwei Herren mit Lederhaut und Jungenaugen hocken dort hinter bescheidenen Holzschaltern mit ihren buntbestickten Tupis und wollen, dass du dich entscheidest. Dich entscheidest, ob du einen Monat bleibst oder doch drei und wenn du sechs bleiben willst, lassen sie dich auch noch eine hübsche Geschichte stricken. Nepal lebt vom Tourismus. Und deshalb wollen sie natürlich auch noch Dollars. Nicht zu viele. Die gehen klar. Nepal ist arm, da ist wenig an der Tagesordnung. Wir tun, wie uns gesagt und verabschieden uns noch von Nickel. 
Der betreibt ein schniekes IT-Business in Indien und besucht in Kathmandu seine Familie. Wir besuchen niemanden, aber saugen jede Information begierig auf. Er raucht viel zu viel. Er findet, dass der Edding, mit dem ich das kleine Mädchen am Check-In bemalt habe, stinkt,er  liebt seine indische Frau, die er "sein Mädchen" nennt, ebenso die Berge und findet, dass dies das schönste Land der Welt ist. Nickel kommt und geht, beides nicht zu lang. Wir sind erst 2 min hier, schon zum Essen eingeladen und mit Telefonnummern versorgt. Nichts zu beanstanden!
Draußen wählen wir eins der zahlreichen Taxis, die eigentlich einfach nur PKW sind. Zustand unbekannt bzw. gerne auch wechselhaft. Sieben Personen fahren mit. Davon sind fünf Nepali, vier in verwandschaftlicher Beziehung zu einander, drei Raucher und zwei russischsprechend. Noch dämmert mir nicht, warum wir soviel Geleit brauchen. Taxi-Promotion ist hier die Werbestrategie Nummer eins. Aber es ist fünf Uhr nachmittags, stockdunkel und kümmert uns schlicht nicht. 
Der Jeep torkelt durch Asphaltlücken, über Schotter  und Kuhfladen entlang finsterer Straßen. Stromstop am Abend. Im letzten Jahrzehnt ist die Stadt unkontrolliert explotiert. Kathmandu bekommt daher nicht die Energiemenge, die es benötigt. Strom wird rationiert. Mal drei, mal vier Stunden am Tag. In jedem Haus hängen mehr oder weniger zuverlässige Listen, die informieren, wann es endlich wieder WiFi gibt. Straßenhunde laufen zickzack durch ein Meer unzähliger grauer Gestalten. Viele von ihren mit nackten, zähen Füßen. Menschen sitzen mit Stirnlampen auf den Holztürschwellen ihrer winzigen Geschäfte, während Staub und Schmutz im Lichtstrahl tanzen. Babas, in heiligem Orange, deren Gesichter von dicken Farbschichten geschützt werden, schlafen  im Dreck. Dicke Luft, ein bunter Strauß aus Müllgestank, Abgasen, Räucherstäbchenaroma und Leben. Endloses Hupen und aufmerksamer Lärm überall. Immer lauter, um die Wette und trotzdem bewegt sich nichts. In Kathmandu ist Hupen ein lokales Komunikationsmedium, das verbindet und warnt. Diese Stadt ist seltsam und verrückt. Und wir? Wir sind verliebt! Hin und weg. Grundlos und bedingungslos. Es fühlt sich an als könnten wir zum ersten mal nach Wochen wieder atmen. Keine Hitze, keine Luftfeuchtigkeit. Alles ist perfekt, einfach perfekt. Ein Zuhause, das wir nie gesucht haben. Kathmandu ist in diesem Moment die dunkelste Hauptstadt der Welt. Und unsere neue Freundin. Wir wünschen unser Hotel ans andere Ende der Welt, damit wir ewig fahren können. Fahren und staunen. Überall vertraute Gesichter, warme Blicke und feuerrote Tikas. Freunde, die wir noch nicht kennen. Kathmandu braucht keine Straßen, keine Beleuchtung und keinen Strom. Sein Motor ist aus Fleisch und Blut. 
Die Straßen sind überfüllt und die Bauweise unkontrolliert. Stockwerk auf Stockwerk, je nach Budget. Wir rollen im Schritttempo über Geröll und Kies. Straßen im herkömmlichen Sinne sind hier selten. Ein Himmel bunter Gebetsfahnen und unzähliger Werbeschilder prunkt über uns. Overload. Unser Jeep biegt in eine Seitengasse, nicht breiter als das Fahrzeug selbst. Wir sind am Ziel. Mitten im Thamel, in Kathmandus Touristenhölle. Ein traumhafter schwarzer Garten empfängt uns im Mondlicht. Flughunde stürzen sich auf den großen Papayabaum in seiner Mitte. Wie wertvoll ein Rasen in dieser Stadt ist, werden wir in den kommenden Wochen lernen. Aber zunächst genießen wir die Stille und Nepals schwarzes Haschisch, das so süß an unseren Lungen klebt und unsere Träume mit Wahnsinn färbt. Und mit Liebe. Denn wir sind verliebt. Heftig und grundlos und für immer.

Sonntag, 15. Februar 2015

Wahrheit oder Pflicht?



Ich bin verwirrt. Um ehrlich zu sein ziemlich verwirrt, denn diese Sache mit der Wahrheit und ihren Ausprägungen bereitet mit Verständnisschwierigkeiten. Wahrheit und Unwahrheit und Ehrlichkeit und Unehrlichkeit und ebenso die Lüge. Das hängt alles wirr zusammen. Nur von diesen Zusammenhängen hab ich keine Ahnung. 
Begriffklärung scheint ein Anfang zu sein, also auf. Eine synonyme Verwendung findet sich häufig und ist sicher ebenso oft nicht angemessen. So auch bei Ehrlichkeit und Wahrheit. Nicht alles was ehrlich dargeboten wird, muss auch wahr sein. Nicht alles Wahre wird auch ehrlich ausgesprochen. Das klingt schlüssig. Aber was ist nun mit der Wahrheit?
Wahrheit hat so eine schöne Phonologie! Die erschloss sich mir das erste Mal bei der Lektüre Heideggers. Der ist geradezu besessen von ihr und arbeitet sie ethymologisch auf. Bis auf die kleinste Wurzel. Aber das ist nicht wichtig. Wahrheit heißt im Griechischen Aletheia, eine Zusammensetzung aus a und lethe. Aletheia, also das was nicht mehr verborgen ist, das Unverhüllte, Entborgene. Und diese Negation deutet vielleicht bereits an, was mir auch heute Schwierigkeiten bereitet. Gehört zum Wahrheitsbegriff der Umstand des Verbergens? Ein Verhüllen und Verschleiern und dann Entbergen? Und wenn dem so sein sollte, mit welcher Intention? Muss Mensch sie erst dieser Verhüllung entreißen und demaskieren? Das klingt nach Aufwand und fast unfair. Und was sie dort verloren hat, erschließt sich mir ebenso wenig.Wahrheit deutet somit eine Machtstruktur an. Sie hat einen Verwalter. Vielleicht auch einen Pächter. Da gibt es diejenigen, die sie inne haben und mit ihr walten und diejenigen, die sie sich verdienen oder eben auch nicht. Das schafft Hierarchie und einer ist am Ende der Arsch.
Verzwickter ist es noch mit der Ehrlichkeit. Sie gilt als Tugend. "Eine ehrliche Seele" ist eine dieser viel zu oft genutzten Redewendungen, die bei Gutmenschentum Anwendung finden. Irgendwo zwischen Anerkennung, Mitleid und Beleidigung, aber nun gut. Unter Ehrlichkeit verstand Mensch zunächst lediglich die Vermeidung einer Lüge. Schon wieder eine Negation? Echt jetzt? Demnach liegt die Leistung eines ehrlichen Menschen lediglich darin nicht zu lügen? Ernüchternd, verdammt. Das ist mir zu wenig. Viel zu wenig. Dafür klatsch ich keinen Beifall. Der Verständniswandel, der sie heimsuchte, bringt wenig Besserung. Demnach deutet sie heute eine Redseligkeit an, eine Offenheit. Belohnt wird hier also das Aussprechen eines Umstandes. Sprache find ich super, immer raus damit. Die ist ein Anfang aber noch nicht genug. Das ist zuviel Geständnis, zu wenig Aktion. Zuviel Foucault zu wenig Platon und das nervt mich. Das gleicht der Beichte und impliziert Angst und Gerechtigkeit und Zwang und Druck. Wer darf sie fordern und wer muss ihr Folge leisten? Und wer soll das alles entscheiden?
Wenn jemand also nicht ehrlich ist, ist er dann sofort unehrlich? Und wenn jemand nicht die Wahrheit spricht, liegt dann Unwahrheit vor? Und wenn Mensch sich nicht um Wahrheit bemüht, kann man diesen Umstand schon Lüge nennen? Das macht mich kirre. Wahrscheinlich haben sie alle ihre Legitimation, ihre Zeit und ihren Ort. Aber eigentlich ist es ganz einfach. Ich möchte nicht angelogen werden. Und ich möchte nicht mit Unehrlichkeit konfrontiert werden und ebenso wenig der Unwahrheit. Ich will mir das Enthüllen nicht erarbeiten müssen, es herbei hoffen und mich darauf verlassen, dass wir am selben Strang ziehen. Ebenso wenig will ich die Konsequenzen fühlen. Denn offensichtlich sagen sie: du hast dir die Wahrheit nicht verdient. Du bist unwürdig, vielleicht auch einfach nicht schlau genug für sie. Für dich reicht die Second-Best Alternative, du machst das schön. Ich bin in der Position das für dich entcheiden zu können. Über dir, stärker....Solche Ignoranz macht mich wütend. Wütend und traurig zugleich. Wut über die Unehrlichkeit, die Unwahrheit und Lüge aber noch mehr Wut über die schlechte Wahl an Mensch, die diesem Umstand zugrunde liegt.
Das ist interne Sabotage von Anfang an. Ich muss mein Selektionsverfahren optimieren, das muss sich bessern. Das muss ich lernen damit sich die Dinge bessern, damit Wahrheit leichter fällt und irgendwann nachvollziehbar wird. 

Samstag, 19. April 2014

Überschaubar

Wenn euch jemand fragen würde, welche Dinge für euch unabdinglich sind, was würdet ihr antworten? Der ipod? Das Notebook? Die Anzahl anderer Blogs, die ich lese, ist relativ hoch (im Gegenzug liest niemand  diesen hier). Und  gelegentlich erstaunen und erschüttern mich die Wertprioritäten. Bei einigen (wir sprechen hier von schönen, smarten, modernen Menschen) scheint der Existenzsinn darin zu bestehen, möglichst viel "Zeug", ungeachtet der Ausprägung anzuhäufen. Egal ob Schuhe, Taschen, Kosmetik, Pflegemittel: überall nur Haul-Berichte, Vorstellungen von neuen Kollektionen und Neu-Erworbenem. Sind es also diese Dinge sind, die uns definieren? Mir fällt es schwer das zu glauben. Fakt ist dennoch: an dieser  Idee "notwendiger" Dinge hängen billiardenschwere Industrien.
Würde euch von heute auf morgen aller weltlichen Besitzer entrissen, wie wären eure Empfindungen? Für einige würde sicher eine Welt zusammenbrechen. Andere würden ein Gefühl der Befreiung erfahren. Im wahrsten Sinne des Wortes: eine Entlastung. Hinfort mit all den beschwerenden Dingen, die einen an Orte, Verträge und Menschen ketten. Alles was statisch macht, bremst. 
Letzten Herbst habe ich meinen Rucksack gepackt und mich auf den Weg gemacht einen Freund im schwedichen Abisko zu besuchen. Abisko liegt 130km von Kiruna im Norden von Lappland. Direkt hin wäre zu einfach gewesen. Also ein one-way Ticket nach Koppenhagen und von dort aus improvisieren. Koppenhagen ist ätzend. Bereits am Flughafen Menschen mit 88 und White Pride Tattoos am Hals. Nichts wie weg hier. Koppenhagen, Stockholm, Abisko, per Anhalter und per Zug, hat perfekt funktioniert. Bereits in diesen ersten Tagen deutet sich an, was mir später immer bewusster wird: Mir fehlt nichts! ALLES funktioniert bestens. Viel besser als ich es hätte planen können. In Abisko beginnt der Kungsleden (der König aller Pfade). Kaum eine bessere Gelegenheit diese traumhafte Szenerie zu erfahren. Zelt und Schlafsack ins Backpack gestopft. 600km durch die Berge nach Nikkaluokta und zurück. Je weniger ich dabei habe, je weniger Dinge klar und vorgegeben sind und je größer der Abstand zur Zivilisation wird, desto wundervoller werden die Empfindungen. Kein Strom, kein Empfang. Es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass man nicht mit Hilfe rechnen muss, sollte etwas passieren. In den Bergen treffe ich Sean, der gerne die Umgebung der Lofoten zum surfen nutzt. Die 400km dorthin scheinen machbar. Eine güstige Gelegenheit sie sich anzusehen. Edding raus, Karton Beschriften, Warten.
Mit Klaas Jan er Anhalter von Abisko nach Narvik. Klaas Jan ist Vater zweier Töchter, von Kopf bis Fuß tättowierter Niederländer und trotz Scheidung immernoch sehr verliebt in seine Ex-Frau. Sie bewohnen in getrennten Trakten eine umgebaute Milchfabrik und sehen sich kaum, vermissen sich aber sehr. Tättowierungen würde er seinen beiden Töchtern verbieten. Er hat veganen Käse und Fincrisp in seinem kleinen Kühlschrank. Wir reden über Gott und die Welt und singen Queen Songs.

In Narvik lässt er mich an einer Shell-Tankstelle raus. Von dort per Anhalter auf die Lofoten. Hände und Lachen sind ausreichende Kommunikationsmittel. Ein reizender älterer Herr erzählt mir dort, dass die Strecke entlang der Fjorde über unglaubliche Brücken führt und Atlantic-Road heißt. Mit Oddbjörn Bredesen per Anhalter also von den Lofoten nach Bodo. Er wünscht sich eine Karte von unterwegs für seine Söhne. Eine Waffel später winken wir uns zum Abschied.
Von Bodo per Anhalter (diesmal auf einem Schiff) drei Tage lang nach Trondheim. Alle Kabinen sind ausgebucht und der Kasinoboden fühlt sich hart und heimisch an. Aom weckt mich mit einer Thai Massage. In ihrem Blick ist Mitleid für meinen Rücken und Sonne aus Asien. Ihr Mann ist Norweger, Lehrer im Ruhestand und wohlhabend. Sie liebt ihn trotz Altersunterschied, will aber ihr eigenes Geld verdienen. Die wohltuende Kunst ihrer Hände hat sich in ihrem 300-Seelen Heimatdort schnell herumgesprochen, so dass sie stets beschäftigt ist. Von Trondheim geht es per Anhalter nach Oslo.
Ich bin nur halbherzige Begleitung und vergesse zu sprechen. Wir halten in Flughafennähe. Das letzte Stück in die Innenstadt fahre ich per Zug. Tage gefüllt von Herzlichkeit, Aufrichtigkeit ,guten Geschichten und menschlicher Wärme. Zwei Punkmädchen geben mir den Türcode für das Blitz. Mit Rahul skate ich nachts an Second-Hand-Shops vorbei und spiele in Pubs scrabble. George wohnt neben uns und findet Morgenkaffe auf dem Bordstein genau so herzwärmend wie wir.
Was könnte ich vermissen? Trotz freundlicher Gastgeber reichen zehn Tagen in Oslo. Ich habe nun grobe Orientierung in der Stadt und Vertrauen in die Menschheit. Also auf nach Island.
Drei Wochen dort reichen um die Insel zu umrunden. Ein zweites Zuhause gefunden, Katzengeburtstag mit Habba-Grace gefeiert, Vigdis Grace High Five gegeben. Ich habe wertvolle Dinge erlebt und buche drei Tage vor meiner letzten Uni-Prüfung einen Flug nach Düsseldorf. Am Flughafen treffe ich Martin, der am Vorabend betrunken mit deiner Zigarette sein Hotelzimmer angezündet hat und eigentlich Konzertveranstalter ist. Die Brandwunden und Verbände passen gut zu seinem Slime T-Shirt. Er bietet mir im Flugzeug sein Käsebrötchen an. Auf dem Flug denke ich an Ben aus Neuseeland. Ben kam  gerade aus Südamerika, um sich auf Island ein Kontrastprogramm zu gönnen. Er reiste (schon den 13.en Monat...) mit einem Rucksack der Größe, den jeder Student hier täglich mit zur Uni nimmt. Auf die Frage hin, wie er mit so wenigen Dingen auskommt, erwidert Ben, er sei mit einem großen Backpack aus Neuseeland aufgebrochen.  In den letzten Monaten entdeckte er, je weniger er bei sich hatte, desto freier und unbesorgter war er. Im Laufe der Zeit reduzierte er sich auf das Wesentlichste indem er unterwegs absichtlichlich Dinge liegen lies.
Das Betreten der eigenen Wohnung nach längeren Reisen ist erschüttern. Die Sinnlosigkeit der dort angehäuften Sachen erzeugt fast Ekel. Während sich manche schnell aklimatisieren, befällt mich Panik. Alles, das bremst und bindet, muss schleunigst weg. Freunde schütteln  stets  ungläubig den Kopf, wie man Comic XY oder Platte XY einfach abgeben kann. Doch niemand vermisst etwas. Erleichterung.
Nächsten Monat geht es für mich wieder los. Die Richtung ist noch unklar. Natürlich one-way, denn alles was perfekt ist, kann man nicht planen. Dinge wieder einfach passieren lassen. Ich weiß jetzt, alles was ich zum Leben brauche, passt in mein Herz, meinen Kopf und meinen Rucksack. Und das ist eine Last, die ich nur allzu gerne trage. Gefühle, Erinnerungen, Eindrücke, Neugier und Tatendrang. Notwendiges ist doch überschaubar.

Samstag, 29. März 2014

Siamese Part 2: Schulterpolster als politisches Statement. Grace Jones / Klaus Nomi



Die zuletzt gehörte Platte auf dem Plattenteller  ist eine schöne Momentaufnahme. Ein vertontes Polaroid. Beim Schuhzubinden kitzelt sie im Nacken. Zu ihrem Rhythmus stolperst du die Treppenstufen hinunter, während du das Haus verlässt. Ihr Tempo bestimmt dein Wippen an der U-Bahnhaltestelle. Klaus Nomi und ich  hatten vor einigen Wochen so ein musikalisches Tête á tête. Ähnlich guten Freunden, deren Liebe so gewiss ist, dass regelmäßiges Melden überflüssig wird. Die sich in Ruhe lassen, wenn es kriselt und sich beim nächsten Treffen trotzdem herzlich warm umarmen als wäre nichts gewesen. Eine Weile waren wir beide ziemlich beschäftig und haben uns aus den Augen verloren. Begeistert und vertraut haben wir uns wieder gefunden.
Das selbstbetitelte Werk vom Klaus Nomi fordert deine volle Aufmerksamkeit. Multitasking macht man besser zu Katy Perry. Was hier kredenzt wird, ist ein schief geratenes Petit Four. Heulende Synthesizer und ein menschliches Theremin. Die Dinge sind aus der Form geraten, verzerrt, schräg, verwischt. Eine seltsame Athmosphäre. Alles schwarz, weiß, grau und trotzdem ziemlich bunt. Der Klang ist eigen, sperrig und lebendig. Nomi, ein ausgebildeter Kontertenor, mischt hier schwarzen  Gesang mit dem, was spätere Generationen Wave nennen werden. Die Stücke sind halb geborgt, halb DIY. Chubby Checker´s „The Twist“ bekommt hier einen siamesischen Zwilling. Nomi´s Musik ist stark durch das Umfeld des Dada geprägt und reibt sich an bestehenden Strukturen und Konventioen. So stammen zwei der zehn Stücke aus der Feder von Kristian Hoffman. Unter ihnen Nomi´s bekannteste Auskopplung „Total Eclipse“. Die Themen sind altbekannt: Liebe, Zweifel, Kritik, Wut  und vor allem Lust. „When I see lips bagging to be kissed, I can´t stop, I can´t stop myself!”. Hier geht es aufrichtig zu. Überstilisierte Musik droht häufig in Pathos abzugleiten. Volle Kontrolle zu jedem Zeitpunkt ermöglicht es Nomi dem vorzubeugen. Er ist Subjekt und Objekt des eigenen Schaffens. Charakter, Körper und Inszenierung werden gleicher Maßen zum Malgrund. Die Musik scheint fast Beiprodukt des Gesamtkonzeptes. Schminke im Stilmix aus traditionellen Kabukimasken und Cabaret, kombiniert mit proportionsanormalen Kostümen, mit schmalen Taillen und gigantischen Schultern, unterstreichen diese Klangwelt und erinnern an Metropolis. 1981 erschienen, mit deutlichen Einflüssen von David Bowie und neuen elektronischen Möglichkeiten, hinterlässt Klaus Nomi hier ein beindruckendes Pop-Noir-Manifest. Eine Collage seiner Einflüsse aus Oper, Film, Theater und Kunst und nicht zuletzt eine gelungene Inszenierung seiner selbst. Audio-Auto-Biographie klingt phonetisch fürchterlich, trifft den Sachverhalt jedoch gut.
Szenenwechsel. Sonne scheint über der Rheinaue. Der Tag wird für ein Wiedersehen mit Maks genutzt. Mit KS, mit x kann ja schließlich jeder. Das ist kein Zufall, das ist ein Lebensgefühl. Rasch hochgestolpert ins Derendorfer Eigenheim, fällt der Blick neugierig auf den Plattenspieler. Ein wahnsinns Schallplattencover lehnt im Hintergrund. Was eine Anmut, was für ein Arsch: die heilige Grace Jones. Maks hört jedoch die Nightclubbing LP. Mehr brauch ich nicht um den mopsigen Mann zu mögen.
„Nightclubbing“, ebenfalls 1981 erschienen, zeigt Parallelen zur Arbeitsweise Nomi´s. Coverstücke sind auch bei Grace keine Seltenheit. So stammt der Titeltrack des Album´s,  „Nightclubbing“, aus der Feder von Iggy Pop und David Bowie. „Walking in the rain“ borgt sie sich von Flash and the Pan. Die Interpretationen sind so eigen, dass das Original komplett darin verwässert. Die Basis aus Pop- und Clubmusik schmückt sie dabei immer wieder durch Reggae, Dub sowie Afro- und Latinbeatelemente. Selbst ein verschrobener Tango findet sich in „I´ve seen that face before“. Der Gesang bleibt, von der Klangkulisse unbeeindruckt, pur und unbemüht oder verlangsamt sich zum sinnlichen Sprechen. Während Nomi überzeichnet und stilisiert, punktet Grace Jones Stimme mit Klarheit und Statement. Vornehme Zurückhaltung. Sie ist außerirdisch und weiß Stärken und Charme gezielt einzusetzen. Kunstwerk und Künstlerin fallen bei dieser Frau auf unerreichte Weise zusammen (top 4 der besten Menschen der Welt). Jean Paul Goude hat sie zur Muse und zum Kunstwerk gleicher Maßen erkoren. Cover, Bühnenshow, Kostüme, Musik verbinden sich zu einem performativen Kunstwerk. Ob als Gorilla oder Menschenufo. Das ist Artpop erster Stunde. Jones  erschafft ein Meta-Wesen, nicht Mann nicht Frau, Mensch durch und durch und doch fast Übermensch, mit harten Gesichtszügen und perfekt gesetzter Mimik. Jede Bewegung, jeder Blick ist hier Stellungnahme und Botschaft. Systemkritik, demonstriert am eigenen Körper. Losgelöst von gesellschaftlichen Konventionen, ein Kind des eigenen Universums. Liebe und Inspiration aus vielen Welten, die Symbiose aus Goude und Jones. Was hippiesk klingt, ist Zeugnis eines starken Bewusstseins.  Die Modernität dieser Platte baut auf jahrtausendalten Rhythmen und Weisheit. Auch 30 Jahre nach Erscheinen verblüffen hier Stimmigkeit, subtiler Witz und Verständnis musikalischer Komplexität.
Während auf meinem Plattenspieler Klaus Nomi auf  den Rotationsbefehl wartet, verschnauft bei Maks die fantastische Grace Jones. Die Ähnlichkeit der Covergestaltung verblüfft. Die Bilder zeigen beide in identischer Pose. Überdimensionale Schultern, den Körper zum V verformt. Die Blicke unnahbar und stark. Und während wir über Parallelen und Unterschiede debattieren, will ich insgeheim wissen ob die in NY mal zusammen einen drauf gemacht haben.  Bedeutet die Beteiligung von Bowie in beiden Fällen etwas? Es gibt doch keine Zufälle...."Meine Eltern haben das bei ihrem ersten Date gehört." Noch ein Zug von der süßen Zigarette und wir schweben beide durch 1981.